Nach dem Tod meiner Mutter und einer langwierigen, schweren Krankheit von der ich mich wohl nie ganz erholen werde, zog ich zu meiner Schwester.
Anfangs war ich bloß ein paar Tage die Woche bei ihr. Als der Sommer kam, verbrachte ich ihn mit ihr und ihrer entzückenden Tochter. Und als die Schule wieder beginnen sollte, packte ich einen großen, roten Koffer, und zog zu ihr. Gewand, Tagebuch und Kerzenhalter von meiner Mutter waren im Gepäck – mehr brauchte ich nicht.
Und plötzlich wohnte ich mit meiner Schwester in diesem Wiener Altbau, mit hohen Decken, Flügeltüren und knarrendem Boden. Die Fenster waren fürchterlich undicht und die Heizung ein bisschen zu schwach für die großen, hohen Räume. Stören konnte mich das jedoch nicht. Im Winter haben wir dick eingepackt mit Socken und Wärmflasche geschlafen, im Frühling den Baum vorm Haus beim blühen zugesehen und in den Sommermonaten habe ich die meiste Zeit meines Tages auf meinem Fensterbrett sitzend und lesend oder schreibend verbracht.
Meine Schwester um mich zu haben, meine wunderbare Schwester, die bis heute die stärkste und mutigste Frau ist die ich kenne, haben all das frieren im Winter wett gemacht. Sie hat mir ein Zuhause gegeben, als ich heimatlos war, und hat mir immer all die Geborgenheit und Liebe geschenkt, die ich so dringend brauchte. Alles was ich heute bin, wäre ich nicht, ohne sie. Dort wo meine Mutter aufhören musste, hat sie weitergemacht – und ich bin ihr dafür so unglaublich dankbar. Dazu kommen ihre zwei entzückenden Kinder, die mich liebevoll ,,Schwesterntante” nannten und ganz verwirrt waren, als ich ihnen erklärte, dass ich nicht ihre Schwester bin sondern die Schwester ihrer Mutter. Sanfte Kinderstimmen die mich morgens aufweckten, sich leise und langsam unter meine Bettdecke verirrten und ihre kleinen Hände, die sacht meine Wange streichelten, während sie mir die Welt erklärten. Kinderlieder, die ich vom Kindergarten bis nach Hause eindringlich vorgesungen bekommen habe, um sie dann mitsingen zu können. Weinende Kinderaugen, wenn ich über ein Wochenende zu meiner besten Freundin nach Graz fuhr, weil sie nicht verstanden, dass ich nur ein paar Tage wegbleibe, und diese paar Tage die Ewigkeit bedeuten, für so ein zweijähriges Geschöpf.
Meine Schwester, ihre Kinder und ich leben dort schon lange nicht mehr. Vieles hat sich verändert, und das ist gut so. In all den Jahren, brachte ich es nicht über mich, wieder zu dieser Tür zurück zu gehen, die einst Heimat bedeutete. Erst jetzt, wo ich selbst mein erstes, eigenes Zuhause verlasse, um in ein neues zu ziehen, und mich die Wehmut packt war es so weit zu dieser Tür zurück zu kommen – eine Reise in die Vergangenheit.
Ich hätte nie gedacht, dass mich eine Tür zum weinen bringen könnte. Diese Tür – sie kann es. Und sie tut es wieder. Und wieder. Und wieder.
All die Jahre meiner Jugend ging ich hier ein und aus, egal wie lang ich wegblieb, wie fröhlich, verliebt, wie unglücklich oder verbittert ich war, die Tür öffnete sich mit meinem Schlüssel und ich war Zuhause. Zuhause.
Diesmal hatte ich keinen Schlüssel, und doch drückte ich hoffnungsvoll gegen die Tür, mit der irrsinnigen Vorstellung, dem Wunsch, sie könnte sich öffnen. Und das tat sie auch – wie durch Zauberhand. Zaghaft und doch entschlossen ging ich durch diese Tür – doch eins spürte ich stark: Zuhause ist hier nicht mehr. Denn ein Zuhause ist keine Tür oder ein Zimmer oder eine Wohnung oder ein Ort.
Zuhause ist dort, wo die Menschen sind die man liebt und die einen zurücklieben.
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Was für ein wunderbares Geschöpf Du doch bist und wie dankbar ich bin, Dich in meinem Leben zu haben. Auch trennen uns mehr als 1000 Km, wir sind immer miteinander verbunden. Berührt haben mich Deine Worte und im Gedanken bin ich auch durch diese Tür gegangen.